Wo die Zitronen bluehen by Massimo Carlotto

Wo die Zitronen bluehen by Massimo Carlotto

Autor:Massimo Carlotto [Carlotto, Massimo]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2011-04-09T00:00:00+00:00


* * *

Der Saal der Rechtsanwaltskammer im ersten Stockwerk des Gerichts war voll mit Kollegen. Ich kam auf den letzten Drücker und erreichte meinen Platz in der ersten Reihe nur mit Mühe. Auf der kleinen, für diese Gelegenheit aufgebauten Bühne hatte man über einen Stuhl einen Talar gelegt. Es war der von Giovanna. Als mein Vater auf die Bühne ging, wurde es still. Er sah blass und angespannt aus.

»Liebe Kollegen«, begann er feierlich. »Als Präsident der Kammer ist es meine Aufgabe, derer zu gedenken, die uns verlassen haben. Dabei hätte ich nie gedacht, dass ich der jüngsten Kollegin gedenken müsste: Giovanna Barovier. Giovanna war als Praktikantin in meine Kanzlei gekommen und ist dort geblieben. Ich schätzte sie wegen ihrer Fähigkeiten und hatte sie auch persönlich sehr gern. Sie sollte meinen Sohn Francesco heiraten. Aber heute bin ich gehalten, an sie als diejenige zu erinnern, die diesen Talar trug …«

Mein Vater stockte, er kam nicht weiter. Schluchzend bedeckte er mit den Händen sein Gesicht.

»Verzeiht«, murmelte er.

Dann fiel er auf die Knie. Das Mikrofon pfiff. Zusammen mit den anderen aus der ersten Reihe stürzte ich auf die Bühne.

»Es tut mir leid«, stammelte er. »Ich fange mich gleich wieder.«

»Lass gut sein, Antonio«, griff ein Kollege ein. »Geh nach Hause.«

»Er hat recht«, sagte ich, während ich ihm half aufzustehen. »Es gibt nichts hinzuzufügen.«

Zwischen den Spalier stehenden Anwälten gingen wir hinaus. Einige wirkten bewegt und teilnahmsvoll, andere hatten einen Hauch von grausamer Genugtuung in den Augen. Papàs Erfolg hatte schon immer Neid und Groll ausgelöst, und für viele musste es eine unbezahlbare Befriedigung sein, Antonio Visentin auf den Knien zu sehen.

Mein Vater wollte nicht auf mich hören, und so begleitete ich ihn zu Fuß in die Kanzlei. Die Sekretärinnen wussten schon Bescheid und umgaben ihn mit Aufmerksamkeiten. Dabei hielten sie jedoch immer jene Distanz, die den Stil der Kanzlei Visentin ausmachte.

»Was für eine Blamage«, murmelte mein Vater, als er sich auf den kleinen Sessel fallen ließ.

»Du hättest einem anderen Mitglied der Kammer den Part überlassen sollen. Jemandem, der emotional nicht so betroffen ist.«

»Es war meine Aufgabe.«

Ich gab ihm ein Glas Tonicwater, ließ ihm Zeit, sich zu beruhigen, und fragte dann: »Wann reist du ab nach Rumänien?«

»Heute Nachmittag. Von Verona aus«, antwortete er. »Ich habe gerade noch den letzten Platz in der Business-Class bekommen.«

»Dann gute Reise«, wünschte ich.

»Willst du auch bestimmt nicht mitkommen?«

»Nein. Ich wäre dir nur eine Last.«

Papà stand auf. »Komm her, lass dich umarmen.«



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